Im Laufe der Raumfahrtgeschichte haben sich zahlreiche Rituale entwickelt, um Astronauten vor ihrem Flug zu beruhigen. Eines der ungewöhnlichsten – und wohl bizarrsten – ist das Urinieren auf einen Busreifen, ein festes Ritual für alle Kosmonauten am russischen Weltraumbahnhof Baikonur.
Ein letzter Halt vor dem Start
Stellen Sie sich vor: Sie sind Astronaut oder Kosmonaut und stehen kurz davor, vom Kosmodrom Baikonur in Kasachstan ins All zu starten. Ihr großer Tag ist endlich gekommen, Sie sind in Ihren Raumanzug gekleidet und bereit für den Aufbruch zur Startrampe.
Starten Sie von den USA aus, verbringen Sie Ihre letzten Stunden vielleicht mit einer Partie Poker oder einem kurzen Nickerchen. Doch wenn Sie – egal ob russischer, amerikanischer oder europäischer Herkunft – von Baikonur aus starten, erwartet Sie ein ganz besonderes Ritual.
Nach der letzten Nacht auf der Erde im Hotel „Cosmonaut“ und dem obligatorischen Unterschreiben der Zimmertür bringt Sie ein Bus Richtung Rakete. Etwa 20 Minuten vor Erreichen des Startplatzes hält der Bus – und die Besatzung steigt aus, um auf den rechten Vorderreifen des Busses zu urinieren.
Ein Ritual mit Geschichte
Italienische Astronaut Luca Parmitano beschreibt diese Tradition so: „Es ist ein wenig unangenehm, aber wir reden alle gerne darüber. Es ist eine Tradition seit dem allerersten Raumflug. Etwa einen Kilometer vor der Rakete halten wir an, steigen aus und gehen zum rechten Teil des Busses.“
Doch wie kam es dazu? Der Ursprung reicht zurück ins Jahr 1961, als Juri Gagarin, der erste Mensch im All, diese Praxis einführte. Auf dem Weg zu seiner Rakete verspürte er plötzlich den Drang, zu urinieren. Da sein Raumanzug bald versiegelt werden würde und die nächste Möglichkeit erst Stunden später bestünde, bat Gagarin darum, den Bus anzuhalten. Gemeinsam mit den männlichen Mitgliedern seiner Crew urinierte er auf den Reifen – und schuf damit ein Ritual, das bis heute Bestand hat.
Von der Not zur Tradition
Am 12. April 1961 schrieb Gagarin mit seinem Flug an Bord von „Wostok 1“ Geschichte – und seine spontane Entscheidung wurde zum festen Bestandteil der russischen Raumfahrtkultur. Seither folgt jede Crew, die von Baikonur startet, dieser ungewöhnlichen Tradition.
Interessanterweise sind weibliche Besatzungsmitglieder offiziell von der Teilnahme befreit. Wer möchte, kann jedoch eine kleine Flasche mit eigenem Urin mitbringen und diesen auf den Reifen schütten, um sich symbolisch am Ritual zu beteiligen.
„Mehr als nur Aberglaube“
Der pensionierte Astronaut Chris Hadfield beschreibt diesen Brauch in seinem Buch „An Astronaut’s Guide to Life on Earth“ nüchtern:
„Vielleicht scheint das eine Tradition zu sein, aber wirklich – wenn man stundenlang in einer Rakete eingesperrt sein wird, ohne Möglichkeit aufzustehen, dann ist es einfach gesunder Menschenverstand.“
Was auf den ersten Blick wie ein kurioses Ritual wirkt, entpuppt sich also als Mischung aus praktischer Vorsorge und tief verwurzelter Raumfahrtradition – und verleiht den letzten Momenten auf der Erde eine ganz besondere Note.